Lebensgeschichte meines Großvaters

Der folgende Text stammt aus dem Buch meiner Cousine Elisabeth Schulz.
„Mein Leben mit Homöopathie“, Arzneimittelprüfungen und morphische Felder, Seite 47-49

Für Gottes Rache auserwählt

So kann sich jemand fühlen, der Kalium bromatum als Heilmittel benötigt. Ich möchte die Lebensgeschichte meines Großvaters wiedergeben, der meiner Meinung nach Kalium bromatum als Heilmittel gebraucht hätte. Ich schreibe diese Geschichte in der Hoffnung, durch diese Kurzbiographie Kalium bromatum nach Boller Art lebendig und fühlbar werden zu lassen.
Die Lebensgeschichte meines Großvaters lässt deutlich werden, dass die Themen von Vertreibung und Gewalt gleichsam schicksalsmächtig das Leben eines Einzelnen und einer Generation bestimmen können.

In meiner Erinnerung lebt mein Großvater als ruhiger, freundlicher, gottesfürchtiger und in sich tief versunkener Mann, der ständig, egal wo er saß, seine Finger bewegte. Kam er zu Besuch, war selbst in der Nacht noch das Klopfen seiner Finger auf dem Holz der Bettumrandung zu hören. Oft saß er in Gedanken versunken da, ein tiefes Seufzen, erfüllte den Raum. Manchmal weinte er grundlos, wie es mir als Kind schien. Georg wurde als erstes Kind deutscher Eltern in der Ukraine, dicht am Schwarzen Meer, geboren. Ins Hochdeutsche übersetzt bedeutet sein Nachname „Teufel„. Natürlich war er Ausländer, und zur Zeit seiner Kindheit wuchs der Hass gegen die Deutschen langsam und stetig an. Die Ehe seiner Eltern war nicht glücklich, Georgs Vater verließ die Mutter und seine drei Söhne, um in Amerika ein neues Zuhause aufzubauen. Er hatte versprochen, sie nachzuholen, doch das Versprechen hat er nie eingelöst. Georg verehrte seinen Vater sehr und wurde tief enttäuscht. Die Mutter musste die Kinder allein großziehen, was für die damalige Zeit sehr schwer war. Die Schande, von dem Mann verlassen worden zu sein, haftete nicht nur an der Mutter, sondern auch an den Kindern. Kurz nachdem Georgs Vater nach Amerika gegangen war, starb Georgs jüngerer Bruder einen qualvollen Tod. Georg hat selbst im hohen Alter noch geweint, wenn er über diesen geliebten, verstorbenen Bruder sprach.

Der erste Weltkrieg kam und Georg wurde eingezogen, um gegen die Deutschen zu kämpfen. Er war ein sehr gottesfürchtiger Mann, stolz und ehrlich. Eine Weigerung, in den Krieg gegen seine eigenen Landsmänner zu ziehen, wäre einem Todesurteil gleichgekommen. Georg kämpfte nur für eine kurze Zeit, sein linkes Bein wurde zerschossen, und für den Rest seines Lebens war der junge Mann zum Krüppel geworden. Während der russischen Revolution brachen eines Nachts russische Soldaten in das Dorf ein – die Bewohner hatten sich gegen die Revolution gestellt – und brannten einen Großteil der Häuser nieder. Alles, was Georg sich erarbeitet hatte, wurde ihm wieder genommen: die Werkstatt, die Weinberge, die Tiere. Die Soldaten ließen sich nicht erweichen, als sich der älteste Sohn an sein Lieblingspferd hing und voller Tränen darum bat, es behalten zu dürfen. Was mag ein Vater fühlen, wenn sich ein solches Geschehen vor seinen Augen abspielt? Die russische Polizei nahm alles mit und ließ Hunger zurück. Um Frau und Kinder vor dem Hungertod zu retten, organisierte Georg unter Einsatz seines Lebens Nahrungsmittel, vergrub sie auf dem Friedhof, um in der Nacht das Allernotwendigste für den nächsten Tag zu holen. Aber der Hunger brachte Typhus, Georgs Mutter starb sehr schnell daran. Das Kind im Leib seiner Frau, die ebenfalls schwer erkrankt war, starb. Die einzige Möglichkeit, seine Frau vor dem Sterben zu retten, war, sie in ein Krankenhaus zu bringen, das gerade neu erbaut war. Georg legte sie auf einen Leiterwagen und transportierte sie zu Fuß in das zwanzig Kilometer entferne Krankenhaus. Es verging mehr als ein Jahr, bis sie gesund zurückkehrte. Georg arbeitete inzwischen in der Kolchose, freies Arbeiten war nicht mehr erlaubt. Zwei seiner Kinder starben in dieser Zeit an Hunger und Krankheit. Ein hungriger Sohn wurde zum Krüppel geschossen, als er sich aus dem ehemals eigenen Garten, der nun der Kolchose gehörte, Äpfel holen wollte. Ein noch viel größeres Unglück war für diesen streng religiösen und sehr moralischen Mann, dass die eigene Tochter ein uneheliches Kind bekam – für die damalige Zeit und in der katholischen Umgebung eine große Schande. Dann kam der zweite Weltkrieg. Deutsche Männer wurden erschossen, darunter Georgs letzter Bruder und viele Freunde. In einer Nacht kam die russische Polizei und holte den jüngsten Sohn, Raffael, der wegen Sabotage angeklagt wurde. Während seiner Arbeit in der Kolchose war ein Rad an seinem Wagen gebrochen, und die russischen Arbeiter ließen ihn Tage lang auf ein neues Rad warten. Da machte er sich selbst auf den Weg, denn er brauchte dieses Rad, um seine Arbeit weiter ausführen zu können. Und das war sein Verbrechen! Georg konnte seinen Sohn ein letztes Mal im Gefängnis besuchen. Raffael war traurig, teilnahmslos und resigniert. Danach hörten sie nie wieder etwas von ihm! Alle Nachforschungen blieben ohne Erfolg. Raffaels Frau verbrannte einige Jahre später in den sibirischen Wäldern bei der Zwangsarbeit. Vielleicht wollte sie nicht ohne ihn leben. Sie hinterließ einen Sohn, der seinen Vater Raffael nie gesehen hatte.

Der Krieg brachte Angst und Schrecken für die Deutschen in der Ukraine, und sie verließen ihr Zuhause, um zu überleben.
Georg und seine Frau flüchteten in Etappen, bis sie sich im Norden Deutschlands niederließen. Sie hatten nur zwei Kinder bei sich behalten und zwei Enkelkinder, von denen eines auf der Flucht starb. Das Schicksal der anderen vier Kinder und ihrer Familien war unklar. Die beiden ältesten Töchter und ihre Familien wurden nach Sibirien verschleppt. Inzwischen bewohnten sie ein altes Stroh gedecktes Haus in einem kleinen Dorf nahe Lüneburg. Es war sehr schön, und ich habe mir gewünscht, dass sie dort bis zu ihrem Tod bleiben könnten. Georg war schon achtzig Jahr alt, als das Haus bis auf die Grundfesten abbrannte. Nur das Nötigste konnte gerettet werden. Ein großer Schreck für die Familie, und es muss für ihn und seine Frau eine Erinnerung an die Schreckenszeit in Russland gewesen sein. Seine Frau erkrankte kurz darauf an Krebs, und Georg saß bis zum letzten Atemzug an ihrem Bett. Obwohl das Sterben qualvoll war, wich er nicht von ihrer Seite. Die letzten Jahre seines Lebens hat er in Stille zugebracht. An einem wunderschönen Frühlingstag fiel er von seinem Stuhl, auf dem er im Garten gesessen hatte, und es sah aus, als ob er starb. Doch die Nachbarn konnten dem Prozess des Sterbens nicht zusehen und holten ihn noch einmal ins Leben zurück. Er war darüber sehr unglücklich und erzählte, wie schön es in der anderen Welt gewesen war. Wie leicht und glücklich er sich gefühlt hatte. Einige Zeit später nahm er bei einem Besuch meine Mutter mit ins Nebenzimmer und sagte: „Mein Kind, wir sehen uns heute zum letzten Mal.“ Sie wehrte ab, wollte noch keinen Abschied. Wenige Tage später war er eingeschlafen.

Es scheint mir wie ein Wunder, dass meine Mutter ein Jahr nach der Prüfung die Möglichkeit hatte, ihre Heimat wieder zu sehen. Sie hat 50 Jahre darauf gewartet. Ebenso ein Jahr später öffneten sich die Archive der Ukraine. Die Listen der erschossenen deutschen Männer zur Zeit Stalins und zur Zeit des Zweiten Weltkrieges sollten herausgegeben werden. Raffaels Sohn erfuhr, dass sein Vater nach dem Krieg in einem russischen Gefangenenlager erschossen worden war.
Als ich eines Tages, im Sonnenschein sitzend, mit meiner Mutter über meinen Großvater sprach, forderte sie mich auf, mit in den Garten zu kommen. Stolz zeigte sie mir einen kleinen Keimling, einen Ableger eines Busches aus dem Garten ihres Elternhauses, den sie von ihrer weiten Reise mitgebracht hatte. Diese kleine Pflanze hat lange gebraucht, um sich an die fremde Erde zu gewöhnen, aber sie wird leben und wachsen.

 

Aus dem gleichen Buch, Seite 45

Bilder oder Vision: Irgendwann hatte ich Zeit zu weinen und plötzlich tauchte mein verstorbener Großvater auf. Er sprach sehr lieb zu mir, und ich durfte zurückblicken in sein Leben. „Mein Kind„, sagte er, „ich war auch oft sehr traurig in meinem Leben!“, und tröstend streichelte er meinen Rücken. Er war Tischler, und wenn eines seiner Kinder im Sterben lag und er den Schmerz nicht mehr ertragen konnte, ging er in seine Werkstatt und zimmerte die kleinen Särge. Meine Großeltern haben vier Kinder verloren, was für die damalige Zeit vielleicht nichts Ungewöhnliches war. Meine Vorfahren sind Anfang des 19. Jh. nach Russland ausgewandert. Mein Großvater wurde dort geboren, meine Mutter wuchs dort auf. Zur Zeit Stalins begann eine schlimme Zeit für die Deutschen. Meine Mutter hat erzählt, wie ihr Vater und die Männer des Dorfes in die Wälder geflüchtet sind, um ihr Leben zu retten. Sie hat erzählt von den russischen Polizisten, die kamen, grundlos die Männer geholt und erschossen haben, nur weil sie Deutsche waren. Irgendwann kam die russische Polizei und hat den jüngsten Sohn geholt. Raffael war gerade 24 Jahre, jung verheiratet, seine Frau hochschwanger. Die Familie hat nie wieder ein Lebenszeichen von ihm erhalten. Ein unendlicher Schmerz, den meine Großeltern nie überwunden haben. Und ich hörte meinen Großvater sprechen: ‘Es wäre schön gewesen, wenn ich auch für meinen jüngsten Sohn einen Sarg hätte zimmern dürfen.‘ Es kann sein, dass Raffael erschossen in einem Massengrab liegt. Als diese Bilder aus dem Leben meines Großvaters auftauchten, wurde der Inhalt der Kalium-bromatum-Prüfung deutlicher.

Habe ich in den Tagen der Kalium-bromatum-Prüfung das Schicksal dieses Mannes erlebt, begonnen mit dem Gefühl, flüchten zu müssen, mit der unendlichen Angst? Ruhe kehrte damals ein, als mir jemand den Revolver an den Kopf setzte und mich erschoss. War das der Tod meines Onkels? War dieses weite Land, das ich sah, Russland? War der Trichter, in den ich nicht wollte, das Massengrab?

 

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